Die historischen Hintergründe sind mit
dem Hinweis auf die imperialistische Penetration zu oberflächlich beschrieben.
Hier können die älteren historischen Gründe für den Machtgewinn der
europäischen Staaten nicht hinreichend geklärt werden. Ansätze dazu habe ich
beschrieben in: Voigt, Gerhard, 1986: Industrialisierung in England und
Algerien. Das Vergleichen von Entwicklungen. Quelle: Praxis Geographie 11/1986,
S. 19 23. Wichtiger ist die Neuordnung der Machtverhältnisse durch die Herausbildung
der „Semiperipherien“, wie sie analysiert werden in: Wallerstein, Immanuel,
1974: The Modern World-System: Capitalist Agriculture Hand the Origins of the
European World-Economy in the Sixteenth Century. New York. – und speziell
bezogen auf die Türkei in: Wallerstein, Immanuel / Decdeli, Hale / Kasaba,
Resat, 1984: Die Inkorporation des Osmanischen Reiches in die Weltwirtschaft,
in Jahrbuch zur Geschichte und Gesellschaft des Vorderen und Mittleren Orients.
S. 397-417.
Es besteht daraufhin eine Dialektik zwischen zunehmenden
äußeren Einflüssen und der gesellschaftlichen Wahrnehmung in den betroffenen
Ländern selbst, wie sie z.B. großartig beschrieben wird in einem neuen
biographisch-historischen Roman aus Iran: Shakib, Siba, 2011: Eskandar. Roman.
München. Wilhelm Goldmann Verlag (Goldmann Taschenbuch 47108). {© Siba Shakib,
2009.}
Damit ist aber noch nicht geklärt, warum hier z.B. Iran so
wenig eigene Widerstandskraft aufbrachte – vor allem, da ja keine militärische
Okkupation erfolgt war – und ein zunehmender „Nachhinkeffekt“ in der
gesellschaftlich-politischen Situation eintrat, wie er genauer analysiert wird
in: Alikhani, Behrouz, 2012: Institutionelle Entdemokratisierungsprozesse. Zum
Nachhinkeffekt des sozialen Habitus in Frankreich, Iran und Deutschland.
Wiesbaden (VS Springer).
Alikhani untersucht hierbei vor allem auch die inneren
Konflikte und Machtkonkurrenzen in Iran und den Aufstieg der Pahlawi-Dynastie
Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Scheitern der „konstitutionellen Revolution“. Doch in Bezug
auf die Kadscharen-Dynastie spricht er durchaus von einer „halbkolonialen
Situation“ Irans.
Betrachten wir die Probleme des Zusammenhangs von „Soziogenese“
bei der Herausbildung der modernen Staatsgesellschaft – die ja
interessanterweise bei allen Staaten der Peripherien und Semiperipherien als
erstrebenswertes Modell angesehen wird, wenn auch in der Interessenlage bezogen
auf die jeweiligen Herrschenden – und der damit verbundenen „Psychogenese“ – eine
Erklärung, die sich am Zivilisationsmodell von Norbert Elias orientiert – so treffen
wir auf fundamentale Ungleichzeitigkeiten und gesellschaftliche Widersprüche,
die mit einem einfachen Konfrontationsmodell zwischen dem „Westen“ und z.B. den
„arabischen Staaten“ auch nicht im Ansatz hinreichend geklärt werden können.
Aus Algerien soll als aufschlussreicher biographischer Roman hier genannt
werden: Khadra, Yasmina, 2011: Die Schuld des Tages an die Nacht. Roman. Aus
dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Berlin 2011 Ullstein Buchverlage
(List Taschenbuch 61022). {Ce que le jour doit à la nuit. Paris 2008.}
Heute muss wohl festgehalten werden, dass die „Konfrontationsmodelle“
wenig mit realen heutigen Interessenkonflikten zu tun haben, sondern sehr
bewusst funktionalisiert werden für innenpolitische Machtkonflikte, wobei
natürlich die Stabilität demokratischer Institutionen Maßstab für die Chancen
von „spontanem Volkszorn“ darstellen, wobei weder die Provokation noch die
aggressive Massenreaktion auch nur ansatzweise Zeichen der Informiertheit und
Problemlösung aufweisen sondern zeigen, dass ein Konflikt von beiden Seiten
gewünscht wird…