Friedensbedrohung
in Nahost
Es wird Zeit, im Streit über die Bedrohungslage im Nahen
Osten von stereotypen und emotionalen Reaktionen herunter zu kommen, um
friedenspolitischen Kriterien das notwendige Gewicht zu geben. Auch wenn Günter
Grass selbst mit Betroffenheitsstereotypen spielt – was die Lektüre seines
„Gedichts“ eher peinlich erscheinen lässt – wäre nicht ein „Aufschrei“ der
„Übelnehmer“ angebracht, sondern ein nüchterner Blick auf die Vielschichtigkeit
der Bedrohungslage. Schon 2006 hat der exiliranische Autor und scharfe Gegner
der Mullah-Herrschaft in Iran, Bahman Nirumand, bedenkenswertes über den
Atomkonflikt gesagt – wenn auch heute einige Aktualisierungen angebracht sind,
die die Grundeinschätzung nicht verändern:
»Der Atomstreit hat längst die ihm gebührende Dimension
überschritten. Die Irrationalismen und Emotionen, die bei diesem Konflikt
mitschwingen, haben ihm eine Bedeutung verliehen, die nun mit nahezu allen
Problemen belastet ist, die zwischen dem christlichen Abendland und dem
islamischen Morgenland existieren oder auch nur denkbar sind. Wie sonst ließe
sich erklären, dass schon der bloße Verdacht, denn bis zum heutigen Tag gibt es
dafür keinerlei Beweise, der Iran könnte die Fähigkeit zum Bau der Atombombe
erlangen, im Westen Angst und Schrecken auslöst?
Niemand spricht mehr von Nordkorea, das angeblich im
Besitz der Atombombe ist, niemand empört sich über die Nuklearwaffen, die sich
in der Hand der pakistanischen Regierung befinden und möglicherweise bei der
nächsten Wahl direkt in die Hände von Terroristen fallen werden, niemand redet
von dem Atomwaffenarsenal Israels mit über 200 Atombomben, obwohl durchaus die
Möglichkeit besteht, dass diese Bomben bei einer weiteren Zuspitzung des
Nahostkonflikts eingesetzt werden. Für einen solchen Einsatz sind sie
schließlich entwickelt worden.
Die Welt hat es auch mehr oder minder stillschweigend
hingenommen, dass die USA mit Indien – einem Land, das sich bis heute weigert,
den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, und längst zu einer Atommacht
geworden ist – die Lieferung von atomarem Brennstoff und die Vermittlung von
Atomtechnologie vereinbart haben.
Und es gab auch keinen Aufschrei, als Frankreichs Präsident
Jacques Chirac dem Iran mit dem Einsatz von Atombomben drohte, oder als bekannt
wurde, dass die USA ernsthaft einen atomaren Angriff gegen iranische
Nuklearanlagen planen. Wenn man diese Drohungen in eine einfache Sprache
übersetzt, lauten sie: Wir, Frankreich und die USA, dürfen so viele Atombomben
bauen, wie wir wollen, weil wir zivilisiert sind, und wir dürfen sie auch
einsetzen, um ein anderes Land wie den Iran, das nicht zivilisiert ist, zu
zwingen, sein Atomprogramm aufzugeben.«
(Nirumand, Bahman,
2006: Iran – Die drohende Katastrophe. Köln. Kiepenheuer & Witsch. Aus der
Einleitung.)
Um die herrschenden Ängste, die als historische Erfahrung
das Handeln der Konfliktparteien im Nahen Osten bestimmen, abzubauen, hilft
nicht der wütende „Aufschrei“ innerhalb stereotyp gewordener
Freund-Feind-Schemata, sondern nur friedenspolitische Distanz und der Blick auf
die Möglichkeiten, Bedrohungslagen ohne militärische Konflikte Schritt für
Schritt abzubauen.