Freitag, 13. April 2012


Friedensbedrohung in Nahost

Es wird Zeit, im Streit über die Bedrohungslage im Nahen Osten von stereotypen und emotionalen Reaktionen herunter zu kommen, um friedenspolitischen Kriterien das notwendige Gewicht zu geben. Auch wenn Günter Grass selbst mit Betroffenheitsstereotypen spielt – was die Lektüre seines „Gedichts“ eher peinlich erscheinen lässt – wäre nicht ein „Aufschrei“ der „Übelnehmer“ angebracht, sondern ein nüchterner Blick auf die Vielschichtigkeit der Bedrohungslage. Schon 2006 hat der exiliranische Autor und scharfe Gegner der Mullah-Herrschaft in Iran, Bahman Nirumand, bedenkenswertes über den Atomkonflikt gesagt – wenn auch heute einige Aktualisierungen angebracht sind, die die Grundeinschätzung nicht verändern:

»Der Atomstreit hat längst die ihm gebührende Dimension überschritten. Die Irrationalismen und Emotionen, die bei diesem Konflikt mitschwingen, haben ihm eine Bedeutung verliehen, die nun mit nahezu allen Problemen belastet ist, die zwischen dem christlichen Abendland und dem islamischen Morgenland existieren oder auch nur denkbar sind. Wie sonst ließe sich erklären, dass schon der bloße Verdacht, denn bis zum heutigen Tag gibt es dafür keinerlei Beweise, der Iran könnte die Fähigkeit zum Bau der Atombombe erlangen, im Westen Angst und Schrecken auslöst?

Niemand spricht mehr von Nordkorea, das angeblich im Besitz der Atombombe ist, niemand empört sich über die Nuklearwaffen, die sich in der Hand der pakistanischen Regierung befinden und möglicherweise bei der nächsten Wahl direkt in die Hände von Terroristen fallen werden, niemand redet von dem Atomwaffenarsenal Israels mit über 200 Atombomben, obwohl durchaus die Möglichkeit besteht, dass diese Bomben bei einer weiteren Zuspitzung des Nahostkonflikts eingesetzt werden. Für einen solchen Einsatz sind sie schließlich entwickelt worden.

Die Welt hat es auch mehr oder minder stillschweigend hingenommen, dass die USA mit Indien – einem Land, das sich bis heute weigert, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, und längst zu einer Atommacht geworden ist – die Lieferung von atomarem Brennstoff und die Vermittlung von Atomtechnologie vereinbart haben.

Und es gab auch keinen Aufschrei, als Frankreichs Präsident Jacques Chirac dem Iran mit dem Einsatz von Atombomben drohte, oder als bekannt wurde, dass die USA ernsthaft einen atomaren Angriff gegen iranische Nuklearanlagen planen. Wenn man diese Drohungen in eine einfache Sprache übersetzt, lauten sie: Wir, Frankreich und die USA, dürfen so viele Atombomben bauen, wie wir wollen, weil wir zivilisiert sind, und wir dürfen sie auch einsetzen, um ein anderes Land wie den Iran, das nicht zivilisiert ist, zu zwingen, sein Atomprogramm aufzugeben.«

(Nirumand, Bahman, 2006: Iran – Die drohende Katastrophe. Köln. Kiepenheuer & Witsch. Aus der Einleitung.)

Um die herrschenden Ängste, die als historische Erfahrung das Handeln der Konfliktparteien im Nahen Osten bestimmen, abzubauen, hilft nicht der wütende „Aufschrei“ innerhalb stereotyp gewordener Freund-Feind-Schemata, sondern nur friedenspolitische Distanz und der Blick auf die Möglichkeiten, Bedrohungslagen ohne militärische Konflikte Schritt für Schritt abzubauen.

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